Effektive Therapie für genetische Erkrankung

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Bei der Erbkrankheit hereditäres Angioödem (HAE) treten ohne erkennbaren Auslöser Schwellungen an einer oder mehreren Körperstellen auf. Insbesondere wenn die oberen Atemwege betroffen sind, kann eine sogenannte HAE-Attacke lebensgefährlich sein. Wirkstoffe zur Bedarfsmedikation sind bisher nur in Form von Injektionen und Infusionen verfügbar. In einer Phase-2-Studie des Universitätsklinikum Frankfurt und der Charité – Universitätsmedizin Berlin unter Beteiligung des Fraunhofer ITMP konnte nun erstmals gezeigt werden, dass ein oral verabreichter Wirkstoff wirksam ist. Die Therapie könnte die deutlich aufwendigeren und belastenderen Injektionen ersetzen.

Berlin. Bei Patientinnen und Patienten mit hereditärem Angioödem (HAE) liegt eine Veränderung im Erbgut vor. Die genetische Erkrankung manifestiert sich überwiegend im Kindes- und Jugendalter und bleibt bei den meisten Betroffenen ein Leben lang symptomatisch. Sie äußert sich in starken, örtlich begrenzten Schwellungen der Haut und der Schleimhäute, die an verschiedenen Körperregionen auftreten können. Oft sind das Gesicht, der Magen-Darm-Trakt, die Extremitäten und das Urogenitalsystem betroffen. Bei Beteiligung der oberen Luftwege kann eine HAE-Attacke lebensgefährlich sein. Wenn in der Folge zum Beispiel ein Ödem am Kehlkopf entsteht, ist das eine der häufigsten Todesursachen bei HAE-Patientinnen und -Patienten. »Behandlungsrichtlinien empfehlen deshalb, die Attacken so früh wie möglich zu therapieren«, erklärt Prof. Marcus Maurer, Standortleiter des Fraunhofer ITMP Immunologie und Allergologie IA in Berlin. »Studien haben gezeigt, dass eine schnelle Behandlung der Patientinnen und Patienten die Zeit bis zur Symptomlinderung und die Gesamtdauer der Attacke erheblich verkürzt.«  

Entstehung einer HAE-Attacke

Die Plasma-Kallikrein Konzentration ist bei der Erkrankung durch das hereditäre Angioödem der entscheidende Faktor. Bei gesunden Menschen wird die Aktivität dieses Enzyms vom Protein C1-Inhibitor reguliert. Ein Gendefekt führt bei HAE dazu, dass die C1-Inhibitor-Konzentration zu niedrig ist und das Kallikrein-Kinin-System übermäßig aktiviert wird. In der Folge kommt es zu einer erhöhten Durchlässigkeit der Blutgefäßwände. Flüssigkeit wandert aus den Gefäßen ins Gewebe und es entstehen die HAE-typischen Schwellungen, die Ödeme.

Ödemattacken können sich über mehrere Stunden entwickeln oder ganz plötzlich auftreten. Die Häufigkeit variiert ebenso stark wie die Dauer. Bei manchen Betroffenen treten sie mehrmals wöchentlich auf, bei anderen nur einmal im Jahr oder seltener. Die Schwellungen bestehen von nur wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen. In den meisten Fällen ist kein direkter Auslöser der Attacken erkennbar. Diverse Ursachen stehen unter Verdacht, darunter Infektionen, Medikamente, psychischen Stresssituationen, Operationen, Traumen und Veränderungen des Hormonhaushalts. Wann und an welchem Körperteil die nächste Attacke auftritt, ist ebenso wenig vorhersehbar. Mit einer rechtzeitigen Bedarfsmedikation ist das hereditäre Angioödem allerdings gut behandelbar, so dass Patientinnen und Patienten nicht durch unerwartete Attacken in Lebensgefahr geraten.

»Akute HAE-Attacken sind derzeit ausschließlich durch intravenös oder subkutan verabreichte Wirkstoffe therapierbar«, erklärt Studienleiterin Dr. Emel Aygören-Pürsün, Fachärztin für Innere Medizin in der Angioödem-Ambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt. »Die interventionelle klinische Phase-2-Studie hat gezeigt, dass eine effektive orale Therapie akuter Angioödem-Attacken bei HAE möglich ist. «Neben dem Universitätsklinikum Frankfurt, der Charité und dem Fraunhofer ITMP waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehreren europäischen Ländern, den USA, Neuseeland und Kanada an der Studie beteiligt. Sie ist der erste Peer-Review-Bericht über ein orales Therapeutikum zur Behandlung von HAE-Attacken und wurde am 11. Februar 2023 in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht.

Orale On-Demand-Therapie mit Sebetralstat

Derzeit zugelassene Therapien für HAE bestehen aus bedarfsgesteuerten und prophylaktischen Medikamenten, also Wirkstoffen zur akuten Behandlung oder Vermeidung von Attacken. Allerdings ist die Verabreichung bislang belastend: Die Patientinnen und Patienten erhalten die Wirkstoffe durch Infusionen oder Injektionen. Diese Methoden benötigen Schulungsaufwand, sorgen für Zeitverzögerungen bei der Behandlung und können zu unerwünschten Nebenwirkungen wie Schmerzen und Überempfindlichkeitsreaktionen an der Infusions- oder Injektionsstelle führen. »Mit dem oral verabreichten Wirkstoff, den wir in unserer Studie erprobt haben, konnten diese gravierenden Nebeneffekten vermieden werden. Sebetralstat ist ein Plasma-Kallikrein-Hemmer, der Patientinnen und Patienten mit HAE die Verwendung des Therapeutikums erleichtert. Er kann unkompliziert verabreicht und zuhause eingenommen werden«, erklärt Prof. Maurer. »Sebetralstat hat sich in der Studie als gut verträglich erwiesen. Es erzielte eine schnellere Linderung der Symptome im Vergleich zum Placebo, verringerte den Schweregrad der Attacken und bewirkte eine signifikante Verlängerung der Zeit bis zur Anwendung einer konventionellen Behandlung«, ergänzt Dr. Emel Aygören-Pürsün. Sebetralstat wird vom Körper schnell resorbiert und erreicht innerhalb einer Stunde die maximale Plasmakonzentration, die für die Symptomlinderung maßgeblich ist.

Basierend auf den positiven Ergebnissen der Studie wird derzeit eine klinische Phase-3-Studie mit Sebetralstat durchgeführt, bei dem die Bedarfsbehandlung mit dem Wirkstoff erneut überprüft wird.

 

Publikation:

Aygören-Pürsün, E.*; Zanichelli, A.*; Cohn, D. M., Cancian, M., Hakl, R., Kinaciyan, T., Magerl, M., Martinez-Saguer, I., Stobiecki, M., Farkas, H., Kiani-Alikhan, S., Grivcheva-Panovska, V., Bernstein, J. A., Li, H. H., Longhurst, H. J., Audhya, P. K., Smith, M. D., Yea, C. M., Maetzel, A., Lee, D. K., Feener, E. P., Gower, R., Lumry, W. R., Banerji, A., Riedl, M. A., Maurer, M.; Investigational oral plasma kallikrein inhibitor sebetralstat for on-demand treatment of hereditary angioedema; The Lancet; Feb 11; 2023 DOI: 10.1016/S0140-6736(22)02406-0

*authors contributed equally